Donnerstag, 6. September 2012

Verwerdung


Am 2. 10. 2012 spreche ich in der Reihe «Kunst über Mittag» dreissig Minuten entlang Berlinde de Bruyckeres «Speechless Grey Horse» von 2004 – an dieser Stelle folgen erste Überlegungen.

Sichelförmig liegt es lebensgross vor uns, das Rückgrat mitsamt den andern Körperachsen scheint verschoben, wie gebrochen gar, nur die Mähne deutet Haltung an (wieviel braucht es, damit man seine Pferdehaftigkeit erkennt?). Will heissen: Beine, Schnauze und Schweif fehlen. Das Tier wirkt beschnitten anthropomorph. Doch das Muster ist weder spiegelsymmetrisch noch logisch zusammengesetzt: kontinentalplattenartig folgen die Nähte entlang den Hautresten, dieser biologischen Hinterlassenschaft. Reduziert oder erst am Werden, dem Embryonalstadium gleich – Verwerdung?


Die Bodenhaftung ist verloren, taumelt das Tier durch Kriegstraumata? Das Auge zugenäht, wie andere Öffnungen, Wunden, ein versehrter Prototyp. Das Schnittmuster aus verschlissenem Material findet seine Abschlüsse in Stümpfen, hier wird die innere Versehrtheit als Material persifliert von der Wölbung zu dem nach aussen hin unermesslich offenen Raum. Was wird hier verschlossen? Wo beginnt Austausch, endet Kontakt? Und was bleibt dabei eingeschlossen, also speechless? Sagt der markierte Körper nicht bereits genug? Brennmale zeugen von Besitzanspruch wider Willen; meint genau das doch Kreatürlichkeit


Die Shades of Grey des Titels bleiben irgendwie immer Weiss, nur das Alter verschmutzt den Schimmel und das Fell wird zum blassnoblen Inkarnat. Und doch: das Volumen ist zu real, um Zeichen zu sein. Die Fellwirbel visualisieren den Kampf Tiefe gegen Fläche, der die Bauchkante bildhauerisch umspielt, potenziell. Was drängt?




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