Sonntag, 26. März 2017

do me, baby – like you never done before (prince)


die app motionportrait macht aus harten kerlen unglaublich nette mädels.


Jean-Honore Fragonard «Venus und Cupido», 1760

































mit motionportrait können abbilder zum leben erweckt werden. während bei der app fatify lediglich die digital addierten pfunde in form von fettpolstern schwabbeln, bewegt sich bei motionportrait das frontal reproduzierte konterfei als ganzes; das gesicht wird verlebendigt, animiert (lateinisch animare = beseelen). einem breiten publikum bekannt gemacht haben dies die zeitungsfotos in der harry-potter-reihe, oder die gemälde an den wänden von schloss hogwarts. diese wie jene zeigen allerdings (auf der ebene des filmes) ‘real existierende’ persönlichkeite (berühmte zeitgenössische oder historische figuren) die, im falle der gemälde, sogar mit der betrachterin kommunizieren können (dass es hierfür aber nicht zwingend sprache braucht, stellen wir weiter unten fest). 
die künstlerin soeymilk war eine der ersten, die auf instagram mit motionportrait ihren eigenen geschöpfen, nämlich bleistiftporträts, leben einhauchte. das wiedererwecken von vermeintlich totem übt ja seit jeher, wenn nicht eine morbide faszination, so doch eine schöpferische lust in uns künstlerisch tätigen menschen. in verbindung dieser beiden pole erinnere ich an den golem, an frankensteins wesen, die falsche maria aus metropolis, sil aus species … wäre es dabei nicht mehr als konsequent, dachte ich mir, das gründungs-ereignis künstlerischer selbststilisierung in der europäischen  malerei, albrecht dürers  transformation zum creator spiritus im selbstporträt von 1500 zu bemühen, äh, zu bewegen? 

was bei soeymilks arbeiten (sie zeichnet und malt überwiegend junge frauen), lebendig wirkt, einen als ‘naturalismus’ beeindruckt, würde an dürer nur noch affektiert (veraltet = gekünstelt, unecht). doch woran liegt das? wie eine kollegin bemerkte, stellt sich mit dürers realismus der uncanny-valley-effekt ein. wir kennen ihn schon lange (genaugenommen seit der gründung des animationsstudios pixar): macht die digitalisierung von mimik den programmiererinnen nicht bereits  seit anbeginn probleme? und lassen wir uns von gemütsbewegungen abstrahierter figuren nicht eher mitreissen, als von denjenigen hyperrealistischer cyberwesen
doch kommt eine weitere komponente hinzu: das geschlecht (gender): würde sich ein solcher dürer nicht etwas gar schnell bewegen, den kopf für männliche verhaltensmuster nicht zu stark bewegen? wäre sein häufiges blinzeln nicht bereits als flirtender augenaufschlag zu werten; das anheben der augenbrauen? was sollen wir mit den sich schürzenden lippen anfangen? bewegte sich so nicht gar viel? sollte ein richtiger kerl heute nicht eher in sich ruhen; so, vielleicht?

auf dieses introvertierte, den blick nach innen wendende verhalten stösst man in der app aber erst, wenn man mit dem finger über das display streicht und dem avatar eine blickrichtungund also eine drehung des kopfes vorgibt – vilém flusser würde sagen, ihn 'komputiert'.
prinzipiell ist das virtuelle gegenüber aufgeschlossen, ein attraktor. etwas verunsichert (das rasche zwinkern als mikropause vom erschöpfenden anpreisen des allereigensten selbst, übersprungshandlung), aber süss. alles in allem: beherrschbar.

Mittwoch, 3. Juni 2015

weltverlust

zwei kurze texte für die veranstaltung «zürcher galerien» der migros klubschule, bei der jeweils einmal pro woche verschiedenste ausstellungen vorgestellt werden. eingesprungen bin ich beim besuch von «grieder contemporary» im löwenbräuareal zürich.


wenn man mit 47 zurückschauen muss, ist das schon sehr problematisch, oder selbstverliebt, oder kunstmarktstrategie (was wohl alles auf dasselbe hinausläuft).

    © grieder contemporary 2015   

nic hess zieht in seinem ‚grossen fahrplan für eine kleine stadt’ wortwörtlich alle fäden zusammen. 1968 in zürich geboren, 1995 – mit 27 - das erste werk unter gleichnamigem titel. leider nicht überliefert. also eine persönliche ausstellung, nic lässt revue passieren, lässt sich in die karten schauen, lässt sich ja auch gut verkaufen, eine solche aufdröselung in kleinstteile, wo eine tonwert-zeichnung des künstlers mit grosser nase (1985, das älteste ‚werk’) auf eine gerahmte grafik, die in ein unüberschaubares beziehungsgeflecht auszuarten scheint (‚grosser fahrplan (one and two)’ von 2003), herunter lächelt. doch schön der reihe nach (wenn das denn geht).

kunstgeschichtliche anknüpfpunkte:
murals, collage, combine-paintings, konzeptkunst, street art

was bedeutet es, etwas an eine wand zu hängen? meine damen und herren, sie kennen die entwicklung des tafelbildes, die stark mit christlich-ikonografischer sakralkunst zu tun hat. nun haben wir es hier mit einem sehr konkreten fall zu tun: die wand misst in etwa 8 auf 3.5 meter, darauf verteilt ist gezeichnetes. wie zeichnet man? man ist nah dran. mit der nase am papier. so auch beim lesen einer zeichnung. sie können sich hier an ein besonderes gefühl erinnern, nämlich bevor es diese elektronischen fahrpläne bei der sbb gab, mit ihren 30-punkt grossen schriften, fuhr man mit dem finger ein gelbes plakat entlang, es war von der grösse – achtung, symbolik: weltfformat. man versuchte so, die in maximal 12 punkt gesetzte schrift (schwarz auf gelb) zu lesen und herauszufinden wo und wie der zug nun verkehrte (die zwischenstationen waren in noch kleinerer schrift). eine sehr intime form der rezeption.
dasselbe phänomen treffen wir hier an. während die weiterentwicklung der murals in den 70er jahren des letzten jahrhunderts in new york, die graffitis und deren bastlerische abart, die street art, die zum jahrtausendwechsel  in london aufkam, während diese zwei nicht-institutionalisierten kunst- und/oder freizeitformen also den ort und eben die distanz brauchten, um wahrgenommen zu zu werden (deswegen die peinlichkeit der touristischen vermarktung, wo auf street art-touren durch eine stadt kunst ‚entdeckt’ werden kann – mit vielen ‚geheimtipps’; wie geheim oder intim solche kunst noch ist, sei dahingestellt), lesen wir wortwörtlich in desen kleinen formaten hier, schweifen umher. ein anderes wort fürs umherschweifen ist das französische ‚dérive’, neben der zweckentfremdung (‚détournement’) die zweite (kultur)technik, die von situationisten im nachkriegsfrankreich in paris entwickelt wurde, um die stadt auf eine andere art wahrzunehmen, als es die heutige konsummeilen und fresstrassen, die in jeder stadt aus denselben versatzstücken (h&m, vero moda …) bestehen, vorschlugen. der situationismus also wendete sich gegen das vergnügen, gegen das spektakel in gesellschaft und kunst.
so viel mal zur form, zur hängung dieser ausstellung.

assoziationen:
logo-design, primärfarben, popkultur, mediatisierte bilder (tv, presse)

nic hess zimmert eine privatmythologie unter zuhilfenahme von versatzstücken wie einer aktzeichnung aus der studienzeit (1994), entwürfen zu ausgeführten wandcollagen, sudelbuchsauerei, grafiken als weiterentwicklung seiner skulpturen, oder herausgelösten elementen der popkultur wie harland d. sanders (gründer der fastfoodkette KFC).

natürlich erinnert die ‚raumgreifende wandinstallation’ an eine tube map. an einen fahrplan eben. was man dem 47-jährigen künstler lassen muss: er ist ein meister der linie. sie kennen optischen täuschungen wie das penrose-dreieck, das eigentlich flach, sich dann aber doch gegen hinten in den raum zu verlieren scheint. solche wechselspiele zwischen figur und grund nutzt hess gekonnt und ausgiebig.

berühmt wurde er mit seinen wandbildern aus klebeband. in corporate identity-sauberkeit  klebt er seine schönen silhouetten zu trompe-l'oeil-effekten. habe sie ihren dienst getan, knüllt er die tapes zu gummibällen. doch bei grieder contemporary fällt die tiefenwirkung weg (wegen der dimension ihrer räumlichkeiten?). was bleibt, ist ein arrangement, bei dem die blätter direkt an die wand gepinnt worden sind. einige zeichnungen sind gerähmt, die erinnerungsknäuel (die zerknüllten klebebänder) wurden anderweitig geschützt – entweder, indem über sie eine glasglocke gestülpt wird, oder aber indem sie hoch oben, zwischen zwei weissen winkeln aus dem baumarkt, knapp unter der galeriedecke anzutreffen sind.

grieder contemporary gibt es so seit januar 2006, zuerst stellte damian grieder bei sich zuhause in küsnacht aus. hier stellt sich die frage, inwiefern man sich als künstler im kurzlebigen galeriedschungel über wasser hält. partnerschaften fürs leben sind da heute wohl nur mehr schwer möglich. eher freundschaftsausstellungen, vielleicht ganz casual zusammengeplaudert während einer grillparty bei freunden. so wird der/die betrachterIn mit dem unguten gefühl zurückgelassen, es werde restenverwertung fabriziert. wären die erinnerungsknäuel nicht aus buntem kautschuk und würden, gummibällen ähnlich, nicht fröhlich rauf und runter hüpfen (in unserer  vorstellung), wüsste man nicht, was anfangen mit diesem konglomerat: es klebt einfach zu viel auf einem haufen.

vielleicht ist dies aber auch eine chance für die kunst. galerien zeigen zeitgenössisches. man ‚entdeckt’ eine künstlerin/einen künstler die oder der noch nicht in den grossen kanon der kunstgeschichte aufgenommen wurde. warum also soll sich dies nicht auch in der form ihrer präsentation niederschlagen? ein solches wimmelbild wird man im museum schwerlich antreffen können. und es hat ja auch etwas kindliches – worauf soll denn diese kleine stuhl auf der rechten seite der galerie sonst verweisen?


tibetisches totenbuch

   © grieder contemporary 2015 

kunst kommt von künstlich – kesang lamdark, der in der schweiz aufwuchs, zeigt dies mit seinen tibetischen wurzeln ziemlich deutlich, indem er sie konserviert.

ich möchte dieser besprechung zwei persönlichen erinnerungen vorausschicken. 1) es ist auf eine gewisse art folkore, wenn man sich als schweizer buddhistische gebetsfähnchen in den garten hängt. die alternative umgebung, in die ich kam, als ich als junger erwachsener auszog (nach winterthur) tat aber genau dies. den garten damit schmücken. vielleicht steckte dahinter auch mehr. zeigen, dass man sich für andere kulturen interessierte. vielleicht auch, einen bannkreis gegen böse geister errichten etc.. auf jeden fall: die urtümlich anmutenden, traditionell mittels holzdruck verzierten rechteckigen flattertücher hängen solange draussen, bis sie vollständig verwittert sind, alle gebete zum himmel getragen wurden und so die vergehende zeit des menschen  auf dieser welt dokumentieren. 
lamdark macht das gegenteil: er konserviert. er will erinnern – mahnen. zuerst wirken die sechs wandobjekte abstossend. mit ihrer knalligen farbigkeit erinnern sie an süssigkeiten und als bildformat an kitschkunst. 2) meine grossmutter sammelte souvenirs von wallfahrtsorten,  ein kleiner schrein aus einsiedeln hat mich als kind besonders beeindruckt: in der mitte die schwarze madonna, um sie herum zum gotischen spitzbogen geordnete kleine lämpchen in sternenform, die in allen erdenklichen neonfarben leuchteten, wenn man den schalter drückte. das hat nichts damit zu tun, dass man sich, wie bei neuzeitlichen engelsdarstellungen (deren federn an den flügeln in spektralfarben leuchten) an einen regenbogen – omen eines göttlich-gelobten ‚alles-wird-gut’ – erinnert fühlt. licht als metaphysisches erlebnis, das lamdark ebenso einsetzt, wird hier zum special effect; es steigert das artifizielle der farb- und formgebung. 

hier setzt sich einer aus. versuchen sie nachzuvollziehen, wie diese aus geschmolzener pvc-folie geformten schreine entstanden sind. überhaupt die produktionsbedingungen werden hier dokumentiert. man ist immer ausgesetzt, hier im speziellen die tibeter. wie sie im ausstellungstext nachlesen können, sind hinter der dicken plastikschicht fotos aus der presse zu sehen. selbsstverbrennungen von landsmännern als öffentlicher/stiller protest. historische ereignisse, die nicht vergessen gehen sollen. eingeschlossen wie insekten in bernstein. die bekannte porträtaufnahme mao tse tungs, dem ‚kulturrevolutionär’, trägt den titel ‚mao butts’ (cigarette butts sind zigarettenstummel, der butt steht aber auch, etwas vulgärer, für den allerwertesten). mao soll einen hohen tabakkonsum gehabt haben, in china immer noch ein zeichen von reichtum, was bei uns eher an eine herkunft aus dem handwerksmilieu, der arbeiterklasse suggeriert. sie merken, das vokabular wird sofort soziologisch. anders als die räucherstäbchen im tempel vermögen diese kein heilsversprechen einzulösen. die atmosphäre ist sofort eine andere. man fragt nach dem element, indem man wirkt. wie bei ‚poison water’ (auch aus 2015). dort sind tatsächlich insekten im pvc eingeschlossen, doch ist deren bildsprache gar plakativ. 

seine lebenswelt analysieren. lamdark kann nicht anders. er, der zwischen mehreren hin- und hergerissen scheint. drei sind es genau genommen: die schweiz, wo er lebt und arbeitet, tibet als herkunftsland und china als künstlich etablierte macht in tibet (die dem künstler zufolge schon mit der britischen expedition 1903 faktisch begonnen haben soll). tibet war lange autonomes gebiet, die grenzen chinas hörten vor dem gebirgskamm des himalaya auf. das protektorat hatte grossen einfluss auf die politik der han-chinesen. die briten verletzten diese autonomie was tief greift. gewaltherrschaft, der geistige führer, der dalai lama, wurde ins exil geschickt. die von china etablierte exilregierung befürwortet eine vollständige unabhängigkeit tibets natürlich nicht.

vielleicht rührt der drang des perforierens, der nadelstiche daher. löcher ins system stechen. durchlässigkeiten schaffen. das lhasa bier als kulturgut, aber analog auch als genuss-, bzw. suchtmittel (siehe maos zigaretten). 46 dosen sind es an der zahl. grün ist die farbe der hoffnung. der weisse querstreifen lässt an (militärische) schärpen als ehrenauszeichnung denken. oder können wir lamdark eskapismus vorwerfen? komatöser tiefschlaf nach zuviel bierkonsum? narkotikum und tiefschlaf? was wir mit sicherhheit sagen können: die matraze ist vom allerersten atelier in der roten fabrik abgeformt, gefüllt mit styropor. alles gebrauchte materialien – ‚arme materialien’– eine asiatische arte povera. man arbeitet mit dem vorgefundenen. 

dabei will er doch dem kreislauf entkommen. im tibetischen buddhismus, namentlich im totenbuch, das im 14. jahrhundert entdeckt worden ist, sind übungen zu finden, wie man dem ewigen kreislauf von leben, sterben und wieder geboren werden entweichen und ins nirvana gelangen kann. sich ausklinken und sein schicksal selbst in die hand nehmen. meint doch der begriff der utopie nichts anderes, als einen nicht-ort, eine gesellschaftsordnung, die nicht an zeitgenössische historisch-kulturelle rahmenbedingungen gebunden ist.  auch das schafft die kunst. allerdings ist die utopie nicht zu verwechseln mit der eutopie, dem guten ort, denn dieser bleibt ein wunschtraum.

Freitag, 10. April 2015

migration, feinstofflich

kunst wird politisch durch interaktion – wo sich zwei treffen, wird ausgehandelt. das hat mir neulich marlene streeruwitz plausibel erläutert. partizipation, dispositiv; alle in der kunsttheorie aktuellen begrifflichkeiten führen dorthin.


«ehre sei gott in der höhe» reklamiert der stürzende engel in caravaggios «heiliger familie» von 1609. wie wenn eine mutter nicht wüsste, woher das kleine ding in ihren armen/vor sich herkommt … 
ein landsmann caravaggios, simone martini, hat diese bestürzung 1333 beim wort genommen –  sehen sie sich mal das gesicht mariens an, als sie die frohe botschaft erreicht (die schrift ist eine unziale, die lediglich aus grossbuchstaben besteht)!


malerfürst tizian brauchte für seine «verkündigung» 1535 nicht mehr auf solche ziseliertheiten rücksicht zu nehmen. alles, was von einer anderen – göttlichen – sphäre zeugt, ist ein aller opticks widersprechender, weil vorne spitz zulaufender lichtstrahl.

    

die betroffenheit weicht der anmut, ja der demut. aufgewühlt-sein bleibt internalisiert. dass da zwei parteien streiten, zwei stimmen miteinander ringen, wird erst mit gerhard richters adaption deutlich: verkündigung als laserschwert-kampf avant la lettre (1973).




13 jahre vor seinem herbeirauschenden engel auf der staubwolke wurde tizian das spruchband zum überdimensionierten transparent, der engel scheint mit der grossen antiqua-schrift überfordert: der auferstehungsaltar darf nicht nur (intim flüsternd?) verkünden, er soll laut kundtun, proklamieren! deswegen wohl die schrift in grossbuchstaben auf dem stoff. 

vielleicht vermag alleine diese bilderserie erhellen, weshalb im chat oder allgemein online das benutzen von grossbuchstaben schreien ausdrückt. einschlägige internetforen scheitern an einer seriösen herleitung. es war wohl schlicht ein anpassungsprozess einzelner bestandteile des systems (migration von daten) — von der einen schriftart zur anderen wurden die initialen beibehalten.


jemandem seine stimme leihen. (für eine abstimmung) sich gehör verschaffen. wer weiss, vielleicht hätten die flüchtlinge maria und josef nicht in einem stall unterkommen müssen. sie haben auf jeden fall alles richtig gemacht. sind von tür zu tür gezogen. haben angefragt. basisdemokratisch.

Montag, 15. September 2014

drei ist einer zuviel oder: das lied vom kammmolch

jens steiners roman ist kein krimi und doch beginnt man, nachzuforschen. blättert vor und zurück – ein nie aufgehender rest hockt in ‚carambole’ …

donnerstagabend machte ich pizza. während der teig aufging – da gärt etwas – lief in der küche bob dylans ‚desolation row’. sie kennen es alle, dieses versepos in liedform. vier zeilen daraus fassen mir jens steiners roman ‚carambole’ trefflich zusammen: übersetzt lauten sie ‚der barmherzige samariter zieht sich an, er macht sich fertig für seinen auftritt, denn er besucht den karneval heute abend, den karneval in der desolation row’. 

jens steiners figuren wohnen in einem dorf. das dorf als metapher für übersichtlichkeit – können sie gleich vergessen, sehr verehrte damen und herren! eigentlich wohnen steiners menschen in einer finsteren gasse der verzweiflung – eben der desolation row. dass rund um diese gasse noch eine welt sein könnte, vermuten sie. eine welt die trost spenden würde; alle  hoffen sie auf den barmherzigen samariter, auch wenn er in verkleideter gestalt aufspielt; ich glaube, sowas würde ihnen genügen. ‚elendskino’, sagt der autor dazu!

jens steiner wurde als sohn eines schweizer vaters und einer dänischen mutter 1975 in zürich geboren, studierte in zürich und genf germanistik, philosophie und vergleichende literaturwissenschaft. er lässt in seinem zweiten roman während 12 kapiteln 12 menschen (wenn ich richtig gezählt habe) aus ihrem leben erzählen. wobei nichts passiert – oder besser: alles passiert und nichts. eine explosion in der gasfabrik, alle im dorf gehen hin. warum nur?

vereinfachend gesagt, stehen den jungen leuten die alten gegenüber. die einen finden das dorf sterbenslangweilig, den anderen passiert viel zu viel. jens steiner verpackt das geschickt in übersprungshandlungen: der junge igor kann gar nicht genug snickers-schokoriegel essen, will heissen: seine lust aufs leben ist unstillbar: «es muss endlich etwas geschehen» sagt er permanent (der slogan des schokoriegels in der tv-werbung heisst dann wahlweise auch: ‚wenn dich der hunger packt’ oder ‚und der hunger ist gegessen’). 

carambole spielt während einem unglaublich heissen sommer (kein wunder, dass da die schokoriegel vom kiosk nicht befriedigen!) «bereits im mai herrschte eine bullenhitze. sie raffte die alten dahin wie die fliegen, während die jungen begannen, sich wüsten trinkgelagen hinzugeben … alle dümpelten gedankenlos  dem sommer entgegen.» 61
vielleicht brauchte es deswegen die explosion. als weckruf! doch alles bleibt anders. und davon haben die älteren im dorf genug. wie der familienvater, der sich selber ein swimmingpool graben will, in tat und wahrheit sich aber aus der welt schaufeln möchte. sein pool verkommt ihm zum schacht «das tageslicht drang kaum noch zu mir hinunter, ich wusste nicht wo mein weg endete, aber ich war sicher, dass es bald so weit war. bald wäre ich dort, wo ich für immer verstummen durfte.» 77
nicht alle aber schaufeln sich – proaktiv – ihr eigenes grab. die meisten sind wie gelähmt. der sommer und die hitze sind rein zufällig da. es liegt an den vielen möglichkeiten. «man muss im leben wissen, was sache ist. ich aber weiss überhaupt nichts« sagt eine mutter, die wie angewurzelt auf einer kreuzung stehen bleibt. «alle unbeweglichen teile des dorfes ruhen in sich, dachte sie. als ob es auf dieser welt nie einen anfang gegeben hätte, nie ein ende gäbe.» 219 

steiners figuren stehen wie unter zwang, der welt in angemessener form zu begegnen. von diesem zugzwang handelt ‚carambole’, welches seinen titel einem existierenden brettspiel entlehnt. bei dem schnippen zwei spieler abwechslungsweise runde steine über ein spielfeld, mit dem ziel möglichst viele der eigenen farbe zu versenken. damit das spiel reibungslos abläuft, wird ein gleitpulver eingesetzt. 
die spielmetapher setzt sich in den kapitelüberschriften fort, das letzte ist schlicht mit «aus» überschrieben. «anfang und ende – es muss sie geben. aber sie sind nie das, was sie zu sein scheinen. unsere geschichte ist die geschichte der erde. sterngeburten, kontinentalverschiebungen, neue arten.» weiss ricardo, der biogärtner, dem vor zwanzig jahren die frau davongelaufen ist. samt kind. das kapitel heisst «patt». manchmal geht das spiel nicht weiter – unentschieden, keine handlungs-möglichkeit – darauf werden wir im anschliessenden gespräch etwas näher eingehen.  ricardo versucht sich immer und immer wieder zu erklären, wie es soweit kommen konnte, «doch das denken setzte nicht ein.» 

‚carambole’ lebt vom gesprochenen: steiner nutzt idiome wie «der heinz ist schon recht», oder «ich brauch eine zigi». und man denkt: eigentlich sind die alle wie wir. man fühlt sich aufgehoben. doch die sprache drückt nur bedürfnisse aus. stillt sie nicht. exemplarisch veranschaulicht dies der junge manu. er liest zuhause vor dem schlafengehen in der gesamtausgabe von bertelsmanns grosser naturenzyklopädie. durch zufall gelangt er eines tages an den teich eines nachbarn und meint, einen kammmolch zu sehen. ein objekt, das er in der theorie allzugut kennt, hat sich gerade vor seinen augen in die tiefe des tümpels verabschiedet. manu stakst hinterher, kann sich aber nicht aus eigner kraft aufrecht halten, der besitzer eilt herbei, es entsteht eine turbulente verfolgungsjagd. für ein kleines lurchiges schwarzes stückchen weltzugehörigkeit nimmt er tödliche gefahren auf sich; das ist es ihm wert.

benennt man die dinge, sind sie nicht mehr unheimlich. doch genau darin verbirgt sich die grösste gefahr, schliesslich sind es «nicht die dinge, die uns beunruhigen, sondern die vorstellungen und meinungen von den dingen.» 121 und derer sind viele – der philosoph jean paul sartre würde zusammenfassend sagen: die hölle, das sind die anderen. dass sich jens steiner derart intensiv mit den verschiedensten spielarten dieser hölle auseinandersetzte, brachte ihm letztes jahr den schweizer buchpreis ein. herzlichen glückwunsch!

Freitag, 21. Februar 2014

mola salsa


(VER)WITTERUNG

ADERN
puls und hautgewachsenes,
gezeichnetes durchwirkend

DACH
das haus als gebautes
und somit als speicher
allumfassend-bröckelig
generationengedenken

LAIB
gepresster leckstein
mineralstoffhaushalt 
caco3 metamorphose
brot, salz, nervenreiz


*


weiss – marmor und farbe, von der antike bis heute


hat heute in der reformierten dorfkirche st. moritz eröffnet; d.h. ich stand um 13 uhr vor geschlossenen türen und wartete. ging einmal ums gebäude. suchte die telefonnummer der reformierten kirchgemeinde. um nachzufragen. man weiss ja nie … ich wartete nicht alleine. vor mir rauchte jemand eilig. links vom eingang sah ich jene sorte holzkisten, mit denen üblicherweise wertvolle gegenstände transportiert werden. auf einer war in schmissiger filzstiftschrift «rick owens» zu lesen.  eine viertelstunde später öffnete sich die tür von innen. der rauchende stieg die stufen hinauf und sprach seinen kollegen auf englisch an. ich hinterher, fragte, ob geöffnet sei. sie sahen einander an und liessen mich gewähren. 


im etwa acht mal zehn meter messenden kirchenraum schreitet man unglücklicherweise zwischen norden und süden durch eine zweireihige anordnung. auf versetzten sockeln trifft man auf illustre namen wie hans arp, ai weiwei und tom sachs (eindrücklich, die aus marmor skulpierte plastikmülltonne. mitsamt beschriftung als ultra-flachrelief)

leider gab es noch keine broschüre (sie sei gestern in italien gedruckt worden, werde aber voraussichtlich am späteren nachmittag eintreffen), also schaute ich mehr und las weniger. vielleicht gerade deshalb fiel mir neben der haut-analogie von lucio fontanas zerschnittenen leinwand und dem verwitterten körper einer römischen vestalin aus dem zweiten jahrhundert die perfekt gearbeiteten formen u.a. eben von rick owens designter couch auf, die wie seine turnschuhe, die er in kolaboration mit adidas entwarf, daherkommt. kanten und rundungen perfekt dank c.a.d.


vor solcher kulisse behauptet sich wolfgang laibs reishaus doch gleich viel stärker (muss es das überhaupt?).



weitere informationen zur ausstellung

Sonntag, 1. Dezember 2013

über Ralph Dutlis «Soutines letzte Fahrt»

Ralph Dutli folgte meiner Einladung und las am 1. 12. bei uns in der camera.lit.obscura. Ich machte die Einführung in Dutlis Romandebut.




Herzlich willkommen bei uns an diesem kalten und dunklen ersten Advent. Unser Programm heute steht in einem gewissen Kontrast dazu.

Gerade haben wir die Bilder von Chaim Soutine zur Einstimmung gesehen. Es sind Bilder von vibrierender Farbe, von drastischer Deformation. Als ob sie in der Glut der Sommerhitze flirren würden. Dabei sind diese Bilder, deren Entitäten, möchte ich sagen, nie eindeutig benennbar: Menschen im Gebet zeigt Soutine in Form von Kerzenflammen, Tierkadaver öffnen sich wie  die Knospen einer Blume und Strassen und Bäume scheinen sich zu winden wie leidende Kreaturen. «Als habe der Schmerz die Welt geschaffen und nicht das ruhige Auge des Schöpfers und sein Wort», wird Soutine im Roman vom Rabbi abgemahnt. 

Als Lehrer für Bildnerisches Gestalten musste ich natürlich in der Fachliteratur nachschlagen. Im Catalogue Raisonné, dem Gesamtverzeichnis von Soutines Oeuvre steht, dass Soutine oft Milch und warmes, schwarzes Brot zu sich nahm, und in einer Bildinterpretation las ich, dass die Zubereitung des Essens Liebe ausdrücke und der Vorgang als solcher die Angst zu besänftigen vermag. Essen als Mittler zwischen Sakralem und Profanem. Solches leuchtet spätestens dann ein, wenn man den Ochsenkadaver im Kunstmuseum Bern sieht, wie er von Soutine – dem Gekreuzigten gleich – ins Format gesetzt wurde. Dutli widmet dem ein eigenes Kapitel – er beschränkt sich aber nicht auf eine Bildbeschreibung oder interpretiert es, nein, er spürt mit Wörtern den  Ursachen des Verstörenden nach!

Der Maler solcher Monstrositäten, Chaim Soutine, geboren 1893 in einem Schtetl bei Minsk, liegt zu Beginn des Romans in einem Leichenwagen. Der jüdische Maler wird von Chinon an der Loire zur Magenoperation nach Paris gefahren; getarnt und auf Umwegen, da die Hauptstrassen im Vichy-Frankreich kontrolliert werden. Wie es der Titel schon sagt, soll dies Soutines letzte Fahrt gewesen sein. 

Vielleicht lag es an den ärmlichen Verhältnissen, in denen  Soutine aufwuchs, dass er schon früh von einem Bandwurm sprach, der das Sattwerden verhindere. Das Magengeschwür auf jeden Fall trug er Zeit seines Lebens mit sich herum, kurierte es mit Milch und allerlei Pülverchen, bis es schliesslich zum Magendurchbruch kam. Der inzwischen vermögende Maler soll nun in einer besseren  Klinik, in Paris, operiert werden. Am 6. August 1943 setzte sich der Citroën in Bewegung.


Soweit  die Rahmenhandlung. Wie der Leichenwagen Paris umkreist, so umkreisen wir dank Dutlis Erzählkunst 270 Seiten lang das Leben und Leiden des grossen Schweigers vom Montparnasse, wie er von seinen Freunden genannt wird. Soutine wird vom Fieber geplagt und, als wäre das alles nicht genug, von Visionen heimgesucht, verursacht durch das Schmerzmittel Morphin. Dieser Transport, der heute laut google-maps in knapp drei Stunden zu bewältigen wäre, dehnt sich bei Dutli, wie die Zeit unter Schmerzen, ins Unendliche. Wie der Magen bricht das Zeitgewebe auf, wird durchlässig und somit empfänglich für allerlei Erinnerungen. In diesem transitorischen Raum, drängen sich die delirierenden Bilder auf zum Stoff, zur Erzählung assoziiert zu werden. Traumwandlerisch schreibt sich Dutli hinein in den fremden, fantastischen Kosmos.

Dabei streifen wir die Jugendjahre dieses Götzenanbeters, der, ich zitiere: « sich berausche an den bunten Statuen Baals und deren schmutzigen Farben». Dabei waren doch einzig die Farben im Dorf seiner Kindheit schmutzig, grau die staubigen Wege Smilowitschis und braun die ärmlichen Hütten des Unglücks. Um diesen zu entfliehen, kaufte er sich aus dem Schmerzensgeld, das seine Mutter nach einem Übergriff für ihn einklagte, eine Fahrkarte nach Wilna. Dort nahm er Zeichenunterricht. Litauen aber war nur Zwischenstation, der Sechzehnjährige wollte nach Frankreich. Paris natürlich, damals Welthauptstadt der Malerei. Wir erleben dann auch, wie Soutine im Migrantenmilieu des Montparnasse Fuss fasste ich zitiere «inmitten einem Haufen verwahrloster Russen, Polen und Juden». 

Ralph Dutli zeichnet kraft seiner Imagination ein pulsierendes, ein lebendiges Bild dieser Epoche, wie es in keinem Kunstgeschichtebuch anzutreffen ist: wie Soutine mit Chagall, Modigliani und namhaften Literaten im künstlerischen Austausch stand,  wie er nach einer eigenständigen Darstellungstechnik rang, nach Anerkennung, allem voran bei seinem von Modigliani vermittelten Händler Leopold Zborowski.  Dieser 1910 selbst eingewandert Pole schickte Soutine zuerst weit weg aufs Land, dass er seine Ruhe vor diesem grossen ungehobelten Weissrussen habe. 
Ralph Dutli bringt uns den geheimnisvollen Maler, über den nur sehr wenig Biografisches überliefert ist (es gibt gerade mal ein kleines Bändchen mit Memoiren einer Zeitgenossin), Ralph Dutli bringt ihn uns näher unter spielerischem Einsatz diverser Stilmittel. Fiktive Augenzeugenberichte versuchen, dem peintre maudit doch noch so etwas wie eine Seele abzuringen; nach Art der Situationisten wird in bester Psychogeografie das Dorf Céret beseelt, biblisches Vokabular evoziert die Genese des sprichwörtlich fruchtbaren Bodens, zu dem das Pyrenäendorf für Soutines Malerei von 1919 bis 1922 wurde. 

Die goldenen zwanziger Jahre fallen bei Ralph Dutli in der Gestalt des Amerikaners Dr. Albert Barnes in Paris ein. Der Pharmamilliardär, der gierig ein Bild Soutines nach dem anderen sich einzuverleiben scheint, dieser Magen ohne Boden, überrollt einer Naturgewalt gleich, Zborowskis Galerie. In reiner Slapstick-Manier wird hier die Grundsteinlegung des finanziellen Erfolgs sozusagen durchchoreografiert. 
Dutli schreibt aber auch eine Geschichte der Wirtschafskrise, als die Überfälle des  lechzenden Amerikaners  nach 1929 ausbleiben und 1932 Zborowski ruiniert und verschuldet stirbt. 
Ich fasse mich kurz: mit «Soutines letzte Fahrt» gelang Ralph Dutli ein eindrucksvolles Sittengemälde des gesamten delirierenden Lebens in und um Paris in der ersten Hälfte des Zwanzigsten Jahrhunderts. 
Allem voran aber ist dies ein Buch der Farben, im Besonderen des Weissen, das alle Farben in sich vereint: das Weiss des Lichtes, das alle Dinge unbarmherzig beleuchtet, das Weiss der Milch und des Bismutpulvers, die den Magen besänftigen, das Weiss des entrückenden Mohnsaftes, das Weiss der Klinik, die ihn von seinem Leiden befreit … scheinbar befreit, denn «Wer der Kindheit entkommt, darf kein Paradies erwarten», schreibt Dutli auf der letzten Seite. 

Als wäre ihm nicht genug Leid widerfahren, wird Chaim Soutine vor die radikalste aller Entscheidungen gestellt: Du kannst geheilt werden, unter der Bedingung, dass du nie mehr einen Pinsel anrührst.
Wer stellt diese Frage? Und: wer stellt diese Frage dem bedingungslosesten aller Maler, dem Maler, der seine eigenen Bilder aufschlitzt, sie durchlöchert, als wären sie sein Magengeschwür in Person? Der sich an ihnen abarbeitet, der durch seine Bilder sich an seinem Leben abarbeitet. 

«Poesie ist eine Revolte gegen die Macht der Zeit, gegen den Tyrannen Chronos.» – Soutine bleibt durch das Malen am Leben. Was Ralph Dutli einleitend in seiner Biografie über den Russischen Dichter Ossip Mandelstam schreibt, trifft auch hier zu: «Das Wesentliche ereignet sich im Werk (…) nicht in der Anhäufung von Lebensfakten.» Unter Zuhilfnemahme nur der allernötigsten Jahreszahlen bereichert Ralph Dutli 17 Kapitel lang Biografisches mit Erdachtem, Assoziiertes mit Erfühltem. 
«Mademoiselle Garde und das nichtige Glück» ist ein zärtlicher Dialog mit, so lässt es der Roman vermuten, Soutines grosser Liebe, der deutschen Jüdin Gerda Michaelis. Ich möchte abschliessend aus diesem Kapitel, einem meiner liebsten, noch zitieren. Sie, die Soutines Migrantenschicksal teilt, sitzt in der Limousine neben ihm, spricht aber durch das Fenster, zur Landschaft heraus, gleichsam in die Zukunft hinein: 

«Man starb in einem besetzten Land wie vorher, nur häufiger», sagt sie. Worauf er entgegnet: «Als du zur Winterradrennbahn gingst und nicht mehr wiederkamst, war ich verzweifelt … Ich habe dir ins Lager Gurs einen Brief geschrieben, … es kam keine Antwort, wahrscheinlich durftet ihr nicht schreiben.»  Und er vergleicht sie mit Rembrandts später Lebensgefährtin Hendrickje, wie sie auf dessen Bild ihren weissen Rock in den Händen hält und in schwarzes Wasser steigt. 

Poesie? Unbedingt! Und was für ein immenses Unterfangen muss die Arbeit an diesem Roman gewesen sein. 
Er wird bestimmt kein geringes Mass an Recherche-Arbeit mit sich gebracht haben. Ich habe noch kein Buch gelesen, das auf derart intelligente Weise Zeitgeschichte, Literatur und Bildende Kunst miteinander verbindet. Bestimmt ist das auf die bisherigen Tätigkeiten seines Autors zurückzuführen, denn obwohl «Soutines letzte Fahrt» sein erster Roman ist, fiel Ralph Dutli auf verschiedenste Arten im Literaturbetrieb auf.

Ralph Dutli, geboren wurde er 1954  in Schaffhausen, studierte Romanistik und Russistik in Zürich, später in Paris. Er lebte dort zehn Jahre lang, in der Nähe des Friedhofs Montparnasse, wie ich an der Lesung im Zürcher Literaturhaus mitbekam.  Seit 1994 lebt und arbeitet Ralph Dutli als freier Autor in Heidelberg. 
Zu seiner Pariser Zeit übertrug er Johannes Bobrowski ins Französische, später russische Lyrik ins Deutsche: Joseph Brodsky, Marina Zwetajewa und Ossip Mandelstam. Menschen, die ebenfalls unter katastrophalen Bedingungen nicht anders konnten als weitermachen und niederschreiben, was sie bewegte (Zwetajewa beging 1941 Selbstmord und Mandelstam starb am 27. Dezember 1938 in einem Transitlager bei Wladiwostok). Später würde ich dann gerne nachfragen, inwiefern die Auseinandersetzung mit diesem Figuren sich auf die Arbeit an «Soutines letzte Fahrt» auswirkte. 
1995 wurde Ralph Dutli in die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung Darmstadt gewählt, 2006 erhielt er den Johann-Heinrich-Voss-Preisfür das oben erwähnte übersetzerische Werk.
Zuletzt wurde Ralph Dutli mit dem Rheingauer Literaturpreis ausgezeichnet. Ihr Verleger sagte mir, da dieser Preis mit 11.111 Euro und 111 Flaschen Rheingauer Riesling dotiert ist, sei dies sogar der deutschen Bild-Zeitung eine Story wert gewesen – herzlichen Glückwunsch hierzu!

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Dienstag, 7. Mai 2013

Fluchtpunkte


in Jeff Walls «Tattoos & Shadows» (2000)


Als ich vor zwei Wochen einer Stellvertretung in der Reihe «Kunst über Mittag» zusagte, dachte ich an diese inszenierte Fotografie. Bereits 2005 habe ich sie im Rahmen meines Studiums zur BG-Lehrperson mit einer Klasse der Kantonsschule Im Lee (Winterthur) für das Thema «Moderne/Postmoderne» analysiert und im Unterricht mit den Lernenden besprochen. Mir schien damals, die Thematik noch nicht ausgeschöpft zu haben. 


Wie sich einem Kunstwerk annähern? Diese Diese Frage stellt sich bei Jeff Wall besonders: Soll man seine theoretischen Schriften (über Kunstgeschichte, Malerei und Fotografie) auf sein Werk anwenden und Rückschlüsse ziehen (Ausschnitte wichtiger Texte sind unten als Bilddatei zu finden), oder soll man sich zur werkimmanenten Interpetation entschliessen, und sich so dem theoretischen Bodensatz verweigern?
Das Thema Fluchtpunkte scheint mir bei dieser Arbeit besonders geeignet: Das Feld wird abgesteckt und wichtige Begriffe im Vokabular des kanadischen Fotografen werden  trotzdem nicht ausgeklammert. Fluchtpunkte also:

    Edouard Manet: Der Pfeifer, 1866   

   Jeff Wall: Backpack, 1982

Spricht man von Fluchtpunkten, erinnert man sich u. U. an den Zeichenunterricht und denkt an Perspektive. Diese war in der Renaissance das Mittel schlechthin, um Figuren in eine Landschaft zu integrieren, ein Bild realistisch zu gestalten. Die Konstruktion mittels Fluchtlinien wurde in den Kanon technischer Fertigkeiten der westlichen Malerei aufgenommen und als 'Tableau' zum unhinterfragbaren Gesetz, wollte man als (akademischer) Maler reüssieren. Bei Edouard Manet konstatieren wir hingegen totale Abstinenz der Perspektive. Die Figur-Raum-Beziehung fehlt komplett! 
Jeff Wall orientierte sich des öfteren an der Bildenden Kunst und adaptierte einzelne Werke. Edouard Manet tritt in diesem Wechselspiel besonders häufig auf und dies erklärt sich wie folgt: Eine, wenn nicht die theoretische Schrift Walls überhaupt, lautet «Einheit und Fragmentation bei Manet». Hier erklärt Wall das bereits angesprochene Dilemma, dass Manets Figuren im Bildraum verloren sind. Die wichtigsten Punkte: Die Malerei verlor mit dem Aufkommen der Fotografie das Monopol der Abbildung. Sie musste modern werden, in dem Sinne, dass sie sich der Abstraktion zuwandte. Was aber tat die Fotografie? Die junge Kunst orientierte sich an der Malerei. Nicht an der Art wie gemalt wurde, sondern an ihrem Bildkonzept. Die Fotografie brauchte einen Ort oder einen Raum, indem Figuren waren, die Handlungen vollführten. Dieser Ort konnte aber nicht konstruiert werden, wie die Perspektive in der Malerei: Der Fotoapparat bildet nur ab, gibt wider. Damit verliert die Fotografie laut Wall die sinnliche Beziehung von Mensch zu Mensch, da ein Automat, ein Mechanismus zwischengeschaltet wird; die Geste des weichen Pinsels, der alles umspielt, fehlt.

    Aux Folies-Bergères, 1882

    Picture for Women, 1979

Wird nicht genau dieser Umstand durch das Duo Barcode (alias Technik) – Lattenzaun (alias Grenze) visualisiert (steht man vor dem Bild, wird einem bewusst, dass die Naht der beiden Cibachrome-Hälften mit der horizontalen Verbindung der einzelnen Latten in Eins fällt)?
Der Betrachtende kann also nicht in das Bild eindringen, wird niemals perspektivische Tiefe erfahren: Der Blick stoppt am Zaun, wird von diesem zurückgeworfen. In gewisser Weise greift Wall hier mit seinem Medium Fotografie den closed circuit der frühen Videokunst wieder auf, in welchem sich Künstlerinnen wie Joan Jonas einspeisten, indem sie sich mittels Camcorder in Echtzeit filmten, sich auf der Mattscheibe betrachteten und auf Bewegungen reagierten. Und hier setzt meine Interpretation ein:

Prägungen (medial)
Unter kunsthistorischer Perspektive können wir sagen, dass Wall in seiner Fotografie "Tattoos & Shadows" viele Parallelen zu anderen, vielleicht nicht gerade künstlerischen, doch zumindest aber zu kunsthandwerklichen Herstellungsverfahren zieht; diese gleichsam fotografisch adaptiert. So sind zum Beispiel die Lichtreflexe auf den Kleidern bei Renoir ja eigentliche Pinselstriche, Tupfer, die der Maler als Farbe selbst aufgestrichen hat, wo hingegen bei der Fotografie ein chemischer Prozess das Dargestellte in das Trägermaterial eingebrannt wird, wie die Tinte bei Tattoos unter die Haut gestochen, oder der Text als Druckerschwärze auf Bleisatz in die Papierfasern gepresst wird. 1 (Fussnoten ebenfalls unten als Bilddatei) 

Und wenn wir beim Herstellungsverfahren sind: Für welchen Typ von Fotografie entschied sich Wall? Für die Betrachter im Kunsthaus scheint der Fall klar: Moderne Kunst, Fotografie, kann ich auch, gehen wir weiter. Dieser Fall hier aber ist weit komplexer, denn auch über die geschichtliche Entwicklung der Fotografie als Kunstform schrieb Wall einen langen Essay. In «Zeichen der Indifferenz: Aspekte der Fotografie in der, oder als, Konzeptkunst» geht es, kurz zusammengefasst darum, dass sich Fotografie heute im Spannungsfeld zwischen Dokumentation (fotografieren, was gerade Unvorhergesehenes passiert) und Konzeption (Unvorhergesehenes vermeiden, im Vorfeld alles durchdeklinieren) bewegt. Doch welches ist die Position von «Tattoos & Shadows»?

    Déjeuner sur l’herbe, 1861

Bildkonzepte: vita contemplativa vs. vita activa
Wir wissen, dass Wall sich explizit auf den Bildaufbau bei Edouard Manet bezieht, diesen aber aktualisiert. Dabei stellt sich eine Herausforderung besonders: «Das Konzeptuelle muss in der Kunst dramatisch vermittelt werden, sonst bleiben einem nur die Konzepte auf der einen und die Bilder auf der anderen Seite. Die Bilder werden zur dekorativen Vervollständigung eines bereits vollständig entwickelten Gedankens; blosse Illustrationen. Und daher sind sie langweilig. Es fehlt ihnen das Dramatische. Wodurch wird aber Dramatisierung möglich? Ich meine, durch ein gewisses Programm oder Projekt, das einmal «la peinture de la vie moderne» genannt wurde. Ich denke immer wieder an Goyas Radierungen, unter die er schreib: «Das habe ich gesehen.» (Fundus 142, 260) Kunst wäre demnach nicht anderes als ein Zeitdokument. Doch welche Zeit wird dargestellt? Wir kriegen einen klaren Hinweis – der wohl nicht von jedem Betrachter bemerkt wird: Durch das vierte Paar Schuhe am rechten Bildrand schliesst Wall kompositorisch den Raum hinter uns. Die Fotografie spielt sich nicht auf einer Bühne ab, wir, als stille Betrachter, dringen nicht in eine intime Szene ein, denn die Szene ist als Schnappschuss angelegt. Ein Festhalten eines Sommernachmittags dreier Personen durch eine vierte. Inszenierte Fotografie oder Dokumentation? «Tattoos & Shadows» oszilliert zwischen dem Begriffspaar Dokumentation — Schnappschuss  oder Ewigkeit — Moment.

Fluchtpunkte sind hier also nicht als räumliches oder gar teleologisches Kriterium, sondern als Denkbild für Prozesshaftigkeit zu verstehen. Die Fotografie ist eine Visualisierung von Verwandlungen und transitorischen Zuständen: Das Licht-Schattenspiel von kurzer Dauer (impression) im Blattwerk widerspricht der dunklen Tinte auf heller Haut. Die dunklen Tintenblumen auf der Haut im Vordergrund widersprechen den Malven im lichtgetränkten Hintergrund. Die Asiatin im Bild (neutrales Zentrum, bei der Zentralperspektive wäre sie der Fluchtpunkt) lehnt mit ihren dunklen Haaren am weissen Birkenstamm.


    Auguste Renoir: Bal du Moulin de la Galette, 1876

Einheit und Fragmentierung
Es war zur Zeit des Impressionismus der Fall, dass jedes Bildelement seinen eigenen Charakter bekam. Die Einheit von Figur und Raum (die Perspektive) auseinanderfiel. Vergleichen wir «Tattoos & Shadows» mit Auguste Renoirs Gemälde «Tanz in der Moulin de la Galette» sehen wir: Die Gläser wurden anders gemalt, als die Gesichter der Menschen; das tanzende Paar ist genauer ausgearbeitet als viele Personen im Hintergrund. In Analogie dazu kann man behaupten, dass die Tätowierungen ebenfalls in verschiedenen Stilen gezeichnet sind und unter den einzelnen Fragmenten dieser Hautverzierungen keine einheitliche Ästhetik sichtbar wird. 2



Globalisierung und Selbsttechnik
Tätowierungen lassen auf eine bestimmte Gesellschaftsschicht schliessen. In ihnen klang lange ein Leben in sogenannten Parallelwelten auf dem Schiff oder im Gefängnis an. Heute sind Tätowierungen aber überwiegend Mittel des body enhancement – sie dienen der Kundgabe persönlicher Vorlieben oder philosophischer Weltanschauungen. Tattoos tragen die Innenwelt nach Aussen. Optimieren Persönlichkeit auf den screen der Haut (skinbook, statt facebook). Dasselbe gilt für die roten Zähennägel (bei ihr wie bei ihm!): was für ein Kontrast zum grünen Boden (und welch Zeitvetrieb).
Die Herkunft der jungen Frau in der Bildmitte könnte auf ferne Welten verweisen, wie sie Gauguin (mit dem Schiff, als Matrose?) besuchte und in Haiti gemeint hat, endlich sein Paradies gefunden zu haben. Die Südsee ist heute aber nicht mehr so unberührt (die Frau in der Bildmitte wirkt wie ein neutrales Zentrum) und nicht mehr derart weit entfernt wie einst; und so könnte man behaupten, «Tattoos & Shadows» behandle auch das Thema der Globalisierung, oder poetischer: das (Neu-Er)finden seiner Selbst in der Ferne; denn der Verlust unseres Bezuges zur Umwelt ist eine, wenn nicht die zentrale Erfahrung seit der Modernen Kunst. 3

Eine demokratische, bourgeoise Tradition der Kunst
In einem Gespräch, das sie vor Jahren mit Els Barents führten, antworteten Sie auf die Frage, wie ihre Bilder dem Gedanken der Freiheit stattgeben: «Ich versuche immer, schöne Bilder zu machen.» Denken Sie, diese Antwort hat eine politische Dimension?
Eher eine ethische. Sie greift zurück in die Zeit der Aufklärung, auf die seither manifeste Absicht, die Kunst vom Dogma zu befreien. Die Erfahrung des Schönen ist immer assoziiert mit Hoffnung, und Kunst ist, wie Stendhal sagte, ein Versprechen auf Glück, eine «promesse de bonheur». Die Dinge müssen nicht so bleiben, wie sie sind; es gibt Möglichkeiten, sie zu ändern. Darin liegt die ganze demokratische, die ganze bourgeoise Tradition begründet. Zu diesen Ideen, so problematisch sie sind, gibt es meiner Meinung nach keine Alternative. Und autonome Kunst in der Tradition des Bildes ist das ästhetische Pendant dazu, in aller Problematik. Seite 42 in: «Jeff Wall: Szenarien – im Bildraum der Wirklichkeit». Fundus 142, Verlag der Kunst, Dresden 1997

Figur und Grund
Die Figuren sind mit sich beschäftigt, sind rein für sich im Bild; Buchstaben in einem Buch, auf Nützlichkeit hin angelegt. Ebenso die Landschaft mit dem etwas desolaten Rasen, den liegengelassenen Blättern. Der umgefallene Tisch im dunklen Hintergrund, der verrostete Stuhl, die grobmaschigen und verwaschenen – eben zweckmässigen — Kleidungsstücke … dies alles ist nicht dekorativ, die Blüten sind im Bild nur als Tätowierungen unter der Haut zu finden (lediglich auf dem Nachbargrundstück blühen Malven). Und unter der Haut wollen diese Blüten auch nicht bleiben, sie verwandeln ihre Form hin zu Schmetterlingen, die aus dem Bild zu fliegen scheinen.

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