Montag, 15. September 2014

drei ist einer zuviel oder: das lied vom kammmolch

jens steiners roman ist kein krimi und doch beginnt man, nachzuforschen. blättert vor und zurück – ein nie aufgehender rest hockt in ‚carambole’ …

donnerstagabend machte ich pizza. während der teig aufging – da gärt etwas – lief in der küche bob dylans ‚desolation row’. sie kennen es alle, dieses versepos in liedform. vier zeilen daraus fassen mir jens steiners roman ‚carambole’ trefflich zusammen: übersetzt lauten sie ‚der barmherzige samariter zieht sich an, er macht sich fertig für seinen auftritt, denn er besucht den karneval heute abend, den karneval in der desolation row’. 

jens steiners figuren wohnen in einem dorf. das dorf als metapher für übersichtlichkeit – können sie gleich vergessen, sehr verehrte damen und herren! eigentlich wohnen steiners menschen in einer finsteren gasse der verzweiflung – eben der desolation row. dass rund um diese gasse noch eine welt sein könnte, vermuten sie. eine welt die trost spenden würde; alle  hoffen sie auf den barmherzigen samariter, auch wenn er in verkleideter gestalt aufspielt; ich glaube, sowas würde ihnen genügen. ‚elendskino’, sagt der autor dazu!

jens steiner wurde als sohn eines schweizer vaters und einer dänischen mutter 1975 in zürich geboren, studierte in zürich und genf germanistik, philosophie und vergleichende literaturwissenschaft. er lässt in seinem zweiten roman während 12 kapiteln 12 menschen (wenn ich richtig gezählt habe) aus ihrem leben erzählen. wobei nichts passiert – oder besser: alles passiert und nichts. eine explosion in der gasfabrik, alle im dorf gehen hin. warum nur?

vereinfachend gesagt, stehen den jungen leuten die alten gegenüber. die einen finden das dorf sterbenslangweilig, den anderen passiert viel zu viel. jens steiner verpackt das geschickt in übersprungshandlungen: der junge igor kann gar nicht genug snickers-schokoriegel essen, will heissen: seine lust aufs leben ist unstillbar: «es muss endlich etwas geschehen» sagt er permanent (der slogan des schokoriegels in der tv-werbung heisst dann wahlweise auch: ‚wenn dich der hunger packt’ oder ‚und der hunger ist gegessen’). 

carambole spielt während einem unglaublich heissen sommer (kein wunder, dass da die schokoriegel vom kiosk nicht befriedigen!) «bereits im mai herrschte eine bullenhitze. sie raffte die alten dahin wie die fliegen, während die jungen begannen, sich wüsten trinkgelagen hinzugeben … alle dümpelten gedankenlos  dem sommer entgegen.» 61
vielleicht brauchte es deswegen die explosion. als weckruf! doch alles bleibt anders. und davon haben die älteren im dorf genug. wie der familienvater, der sich selber ein swimmingpool graben will, in tat und wahrheit sich aber aus der welt schaufeln möchte. sein pool verkommt ihm zum schacht «das tageslicht drang kaum noch zu mir hinunter, ich wusste nicht wo mein weg endete, aber ich war sicher, dass es bald so weit war. bald wäre ich dort, wo ich für immer verstummen durfte.» 77
nicht alle aber schaufeln sich – proaktiv – ihr eigenes grab. die meisten sind wie gelähmt. der sommer und die hitze sind rein zufällig da. es liegt an den vielen möglichkeiten. «man muss im leben wissen, was sache ist. ich aber weiss überhaupt nichts« sagt eine mutter, die wie angewurzelt auf einer kreuzung stehen bleibt. «alle unbeweglichen teile des dorfes ruhen in sich, dachte sie. als ob es auf dieser welt nie einen anfang gegeben hätte, nie ein ende gäbe.» 219 

steiners figuren stehen wie unter zwang, der welt in angemessener form zu begegnen. von diesem zugzwang handelt ‚carambole’, welches seinen titel einem existierenden brettspiel entlehnt. bei dem schnippen zwei spieler abwechslungsweise runde steine über ein spielfeld, mit dem ziel möglichst viele der eigenen farbe zu versenken. damit das spiel reibungslos abläuft, wird ein gleitpulver eingesetzt. 
die spielmetapher setzt sich in den kapitelüberschriften fort, das letzte ist schlicht mit «aus» überschrieben. «anfang und ende – es muss sie geben. aber sie sind nie das, was sie zu sein scheinen. unsere geschichte ist die geschichte der erde. sterngeburten, kontinentalverschiebungen, neue arten.» weiss ricardo, der biogärtner, dem vor zwanzig jahren die frau davongelaufen ist. samt kind. das kapitel heisst «patt». manchmal geht das spiel nicht weiter – unentschieden, keine handlungs-möglichkeit – darauf werden wir im anschliessenden gespräch etwas näher eingehen.  ricardo versucht sich immer und immer wieder zu erklären, wie es soweit kommen konnte, «doch das denken setzte nicht ein.» 

‚carambole’ lebt vom gesprochenen: steiner nutzt idiome wie «der heinz ist schon recht», oder «ich brauch eine zigi». und man denkt: eigentlich sind die alle wie wir. man fühlt sich aufgehoben. doch die sprache drückt nur bedürfnisse aus. stillt sie nicht. exemplarisch veranschaulicht dies der junge manu. er liest zuhause vor dem schlafengehen in der gesamtausgabe von bertelsmanns grosser naturenzyklopädie. durch zufall gelangt er eines tages an den teich eines nachbarn und meint, einen kammmolch zu sehen. ein objekt, das er in der theorie allzugut kennt, hat sich gerade vor seinen augen in die tiefe des tümpels verabschiedet. manu stakst hinterher, kann sich aber nicht aus eigner kraft aufrecht halten, der besitzer eilt herbei, es entsteht eine turbulente verfolgungsjagd. für ein kleines lurchiges schwarzes stückchen weltzugehörigkeit nimmt er tödliche gefahren auf sich; das ist es ihm wert.

benennt man die dinge, sind sie nicht mehr unheimlich. doch genau darin verbirgt sich die grösste gefahr, schliesslich sind es «nicht die dinge, die uns beunruhigen, sondern die vorstellungen und meinungen von den dingen.» 121 und derer sind viele – der philosoph jean paul sartre würde zusammenfassend sagen: die hölle, das sind die anderen. dass sich jens steiner derart intensiv mit den verschiedensten spielarten dieser hölle auseinandersetzte, brachte ihm letztes jahr den schweizer buchpreis ein. herzlichen glückwunsch!

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