Dienstag, 17. April 2012

Erlösungsgedanke III

Heute kann ich mit Ihnen tatsächlich über die «Weisse Gans» Segantinis sprechen, sie hängt seit gut einem Jahr wieder in einer Ecke des Kunsthauses. Ich möchte dieses Gemälde von 1886 in den folgenden 3o Minuten auf drei Arten erschliessen: 1. biografisch (und biografisch heisst bei Segantini immer auch geografisch), 2. maltechnisch und 3. symbolisch. Wie kriegt man diesen fast schon ätherischen Tierkörper also zu fassen? Man kann einen Vogel ja auch so malen:

Jean-Baptiste Oudry: «Die weisse Ente», 1753

Im Katalog zur Ausstellung «Von Schönheit und Tod» der Kunsthalle Karlsruhe feiert Oudry so manchen Auftritt. Die Tiere haben ja auch eine eindrückliche Körperlichkeit mit ihrer sorgsamen Modellierung, doch dazu später…

I. Biogeografie

Meine These: Segantinis Lebewesen (damit sind durchaus nicht immer Tiere gemeint, obwohl deren Darstellung meiner Meinung nach seine eindrücklichsten sind) werden mit zunehmendem Alter des Malers und mit zunehmenden Höhenmetern immer leichter, verlieren an Erdenschwere. Ich habe alle Stationen Segantinis chronologisch auf einer Karte versammelt und deren jeweilige Lage recherchiert:


1 87 M.ü.M. 1858 geboren im damalig österreichischen Arco, nördlich des Gardasees, 1870 Erziehungsanstalt Riformatorio Marchiondi, Begabung entdeckt, hört von Fra Angelico 2 386 M.ü.M 1873 Arbeit in Photo- und Drogeriegeschäft des Halbbruders in Borgo, Valsugana 3 120 M.ü.M 1875 Kunstakademie Brera in Mailand, Tageskurse in Malerei und Abendkurse in Ornamentik, Entdeckung des Luminismus, Neoimpressionismus und Realismus (Millet, nach Fotografien) 1878 Stillleben mit der Hl. Cecilia (74,5 × 54 cm, Tempera auf Papier auf Karton, Galleria d’Arte Moderna, Mailand) 4 258 M.ü.M 1881 Pusiano, Brianza, einer hügeligen Seenlandschaft zwischen Lecco und Mailand, 1882 arbeiten in Carella, Fertigstellung der Gotthardbahn 5 800 M.ü.M 1884 – 1886 Corneno und Caglio, Lombardei nach einem langen Ausflug über 6 Como, 201 M.ü.M, 7 Livigno 1’816 M.ü.M, 8 Poschiavo 1’014 M.ü.M, 9 Pontresina 1’805 M.ü.M und 10 Silvaplana 1’815 M.ü.M, liess er sich in 11 Savognin 1’207 M.ü.M im Oberhalbstein im Haus Peterelli nieder, wo er bis 1894 mit Familie lebte. Eine neue Fassung von


Ave Maria bei der Überfahrt, 1886

entsteht, zeitgleich also mit der Weissen Gans, Segantini experimentiert mit der Technik des Divisionismus, 1886 Italian Exhibition in London, 1889 Weltaustellung in Paris – erhält Goldmedaille für

Kühe an der Tränke, 1888

nähert sich dem Symbolismus, erste Retrospektive im Dezember 1891 in der Galerie Grubicy, Mailand, 12 1’815 M.ü.M ab 1894 in Maloja, 13 994 M.ü.M 1896 Sommerurlaub in Stampa bei G. Giacometti, Bekanntschaft mit C. Amiet (beide waren zehn Jahre jünger als Segantini, also 28) 14 1’090 M.ü.M 1896 – 1899 Triptychon «Werden (1896 bis 1899 in der Nähe von Soglio ) 15 2’731 M.ü.M Sein (1897 bis 1899 auf dem Schafberg oberhalb von Pontresina) – Vergehen» (1896 bis 1899 beim Malojapass in Richtung Bergell), 1899 Tod an der Folge einer Bauchfellentzündung

II. Maltechnik
Den Divisionismus schnappte Segantini wohl auf Umwegen über Italien auf. Das Gemälde Ave Maria bei der Überfahrt von 1886 zähle zu den berühmtesten Werken Segantinis und nach einer ersten Fassung aus dem Jahr 1882 markiere dieses sowohl den Abschluss der Brianza-Jahre, als auch den Beginn seiner von der divisionistischen Technik geprägten Lichtmalerei, schrieb die Fondation Beyeler für die Segantini Retrospektive.
Berglandschaft, 1899

Nach meinem Vortrag fand ich im Museumsshop den Katalog zur Ausstellung in Karlsruhe und blätterte darin. Segantini war ebenfalls vertreten: «der hängende Truthahn» von 1881, heute im Kunstmuseum Basel, wird textlich folgendermassen begleitet: «Es finden sich im Oeuvre Segantinis während der frühen 1880er Jahre nebeneinander sowohl herkömmlich durchgearbeitete Stillleben, die sicherlich zum Verkauf vorgesehen waren, als auch Gemälde mit einer experimentelleren Malweise. Maria Gozzoli datiert den Truthahn in das letzte Mailänder Jahr, 1881 und sieht in ihm das Pendant zur Weissen Gans. 1982 datierte Anne-Paule Quinsac die Weisse Gans um das Jahr 1886, hielt jedoch an Gozzolis Frühdatierung des Truthahns mit Hinweis auf die angeblich geringe Reife in der Behandlung kompositioneller Probleme fest.(Das Tier hängt wie die Gans, allerdings bleiben beide Beine oben. Segantini traute dem Leerraum oben rechts jedoch noch nicht und füllte diesen mit einem geflochtenen Korb. MM) Der hohe Abstraktionsgrad und der Mut zur freien Behandlung des Farbauftrags legen allerdings den Schluss nahe, dass das Gemälde wie die Weisse Gans während Segantinis Aufenthalt in der Brianza (Winter 1881/82 - 1886) enstand, bevor er mit seiner Familie in die Schweiz zog und mit der divisionistischen Technik zu experimentieren begann.»

Der Divisionismus als italienische Bewegung ist hierzulande besser unter dem französischen Pendant Pointillismus bekannt. «Es war das ausgeprägte Anliegen Segantinis, die wundervolle Klarheit der Oberengadiner Höhenluft, das klare Sonnenlicht wiederzugeben, was allerdings keineswegs dem Anliegen des Impressionismus, der in eben jenem Jahrzehnt zum Höhepunkt seiner Leistung und Geltung aufstieg, entsprach. Den Impressionisten ging es um die Atmosphäre, um die Wiedergabe der Luft als Medium, das die Dinge der Aussenwelt umgibt und wie in einen transparenten Schleier hüllt.» Martin W. Pernet: «…das Schönste, was ich sah» – Nietzsche und Segantini in Engadins Landschaft und Licht. S. 10. Separatdruck aus dem Bündner Jahrbuch 1998, Verlag Bündner Jahrbuch, Chur

Die Lufthülle sei auf 1'800 M. ü. M. weniger dicht als auf Meeresniveau, schreibt Pernet weiter. Hinzu käme, dass die durchschnittliche Luftfeuchtigkeit im Engadin gering sei und der Malojawind die Atmosphäre von Rauch und Schwebepartikel säubere.
Segantini erprobt bei der Gans, was er später bei all seinen Tierdarstellungen anwenden wird: er malt die Grenze zwischen Körper und Welt mit graublauem Strich. Bestimmt eine Erkenntnis, die ohne das Engadiner Licht nicht zu Stande gekommen wäre – was wiederum die helle, luftige Malweise der Gans vom dunklen Einerlei des Truthahns abzuheben vermag.
Wie oben bereits zitiert, ist die Farbauftrag bei der Gans ein freier. Hätte er sich diese spontane Technik erhalten, wäre Segantini wohl dem Dilemma entkommen, verschiedene Materialien mit der immergleichen Pinselführung zu behandeln. Oft wirkt bei ihm Holz wie Gras wie Himmel wie textiles Gewebe…


III. Symbolik

Im «Lexikon der Symbole – Bilder und Zeichen der christlichen Kunst» aus Diederichs Gelber Reihe findet sich unter dem Eintrag Gans Folgendes: «Die G. ist und war im Winter Hauptbestandteil bürgerlich-ländlicher Feste. – Im Hinblick auf eine besondere Gänseart (die nordeuropäische Ringelgans) erzählen Fabeln, die seit dem 14. Jh. nachweisbar sind, sie entstehe nicht aus Eiern, sondern komme als junger Vogel aus Entenmuscheln oder den platzenden Knospen eines weidenähnlichen Baumes hervor. – Als Lebensalter bezeichnet die G. als Vogel der geschwätzigen Weisheit das hohe Alter von Männern und Frauen.»
Unter dem Eintrag Muschel findet man: «M. wurden von Gläubigen als Erkennungszeichen in den frischen Mörtel der zugemauerten Grabnischen in den Katakomben eingedrückt. … Die M. ist das Bild des Grabes, aus dem der Mensch eines Tages auferstehen wird.»
Auch die Zahl drei erhält bei Segantini grosse Bedeutung: Seine letzte grosse Arbeit, die er nicht beenden konnte («Werden – Sein – Vergehen»), ist als Triptychon angelegt und kann heute in der Rotunde mit Oberlicht im Segantinimuseum in St. Moritz bewundert werden. Das Bild

Frau am Brunnen, 1893

im Museum Oskar Reinhart am Stadtgarten in Winterthur fasst die grosse Bewegung noch einmal still zusammen: der schattige Vordergrund öffnet sich nach hinten zu einer saftigen Weide, der wolkenverhangene Himmel scheint den Tag anzukündigen.

Totes Reh, 1892

Die Verkündigung des neuen Wortes, Kreidezeichnung für Nietzsches «Also sprach Zarathustra», 1896
«Mögen die Kinder deines Leibes schön sein für die Liebe, stark sein für den Kampf, klug sein für den Sieg», schreibt Segantini im Brief an Guido Martinelli. Da wäre er wieder, der Dreischritt.

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