Donnerstag, 23. Juni 2011

Die Eine und Einzige



Cremaster 3: Level (Terry Gillespie)
color-coupler print in acrylic frame (86.4 x 71.1 cm)



Keine Kultur kommt ohne sie aus: Sie ist die Königin der Nacht und die Herrin des guten Geschmacks. Immer umspielt ihr Antlitz ein süffisantes Lächeln: Sie weiss von den Düften der Welt, kennt die Geschmäcker von verlorenen Rezepturen aus vergangenen Jahrhunderten; so lange spielt sie schon eine Rolle. Es gab sie sozusagen schon immer – von Anbeginn, und ihr Ruf, der sirenenhafte, eilt ihr voraus. Und wir, wir folgen ihm gern, erliegen den Versuchungen nur allzu willig, hängen an ihren Lippen, trinken ihre Verheissungen wie Nektar.
Doch weiss man nie genau, auf was man sich einlässt. Sie mag zwar die eine sein, die bereits da ist, bevor man bemerkt, dass man sich nach ihr sehnt, doch nur selten kann man sich von ihr lösen, auch wenn draussen das Taxi bereits wartet. Nicht ziellos scheinen ihre Absichten, jedoch unauslotbar sind ihre Abgründe. Dann und wann gibt sie den Fels in der Brandung, übernimmt die bessere Hälfte eines schlechten Konzerts, rettet vor den gürtellinientiefen Seichtheiten eines lauen Comedyabends, oder hilft gar über niederschmetternde Enttäuschungen im Privatleben hinweg. Sie zeigt Geduld. Mag sie ihre Besucher mit hölzernem Charme umgarnen oder ihm ihre glattpolierte Chromstahlschulter zeigen, immer lockt sie mit erquickendem Nass. Doch ihr Wesen bleibt wankelmütig: So bietet sie Raum für Bekanntschaften, die nach einem gemeinsamen Prosit keiner weiteren Pflege mehr bedürfen; sie ist eben auch die Unverbundenheit in Person. Doch wohnt ihrem flatterhaften Dasein sehr wohl eine Prise Hoffnung inne: wenn man ganz genau hinhört, vernimmt man das Kugelschreibergekritzel auf einem lausigen Fetzen Papier. Manch eine Liebesnacht hat hier ihren verheissungsvollen Anfang genommen, und viele weitere Liebesnächte fanden wegen ihr nicht mehr statt.
Ob sie als herausgeputzte Diva mithilft, die Existenz eines Lokals am Leben zu erhalten, oder ob sie provisoriumsgleich in die hinterste Ecke des Clubs verbannt wird: immer ist sie eine Alternative zum vorgegebenen Abendprogramm. Sie ist ein Statement: Ich bin gegen organisierten Mainstream, ich mach mein Ding! Sie ist und bleibt eine Kämpfernatur, dionysisch, und mit ihr kämpfen wir: Denn obwohl ihre Hocker nie Recht zur Höhe des Tresens oder zu seiner Tiefe passen (so dass entweder der Rücken oder die Kniescheiben schmerzen), und obwohl das bessere Geschlecht saudoof an ihr ausschaut, weil diese keine Haken für Taschen und Mäntel bereithält und so der gesamte Hausrat auf den Knien balanciert werden muss: wir kehren immer wieder gerne zu ihr zurück. Beharren auf unserem Recht auf Rausch – bleiben standhaft, bisweilen…

unveröffentlichter Text für die Kolumne «Publikumsspots» des Zürcher Oberländers
angeregt von Walter Paters Text über die Mona Lisa

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