Mittwoch, 2. Mai 2012

Ritual und Spiel

oder: Erlösungsgedanke IV – Zeiten des Übergangs



Das neulich im Londoner Victoria & Albert Museum entdeckte Fleischmessser vermag die bisherigen Einträge zu diesem Thema einen zeitlichen Aspekt hinzufügen: Dem zusammen mit einem Kochbuch ausgestellten Notation Knife aus dem Italien der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts wurde auf beiden Seiten der Klinge ein Gebet eingraviert.




Benedictio mensae (Tischsegen vor dem Mahl): 
   Quae sumpturi sumus benedicat trinus et unus 
   Was wir essen werden sei gesegnet vom Einen Dreifaltigen

Gratiarum actio (Danksagung nach dem Essen): 
   Pro tuis deus beneficiis gratias agimus tibi 
   Wir danken dir, Gott, für deine Grosszügigkeit


das Ritual
Die Verbindung von Essen, (bzw. Opferhandlung, man denke an Segantinis Gans) und religiöser Andacht (dem Ritual) scheint ja nicht erst mit diesem Messer auf der Hand zu liegen – bis jetzt aber habe ich nichts Vergleichbares gesehen, das diesen Gedanken so eindeutig zeigt . Verrückt auch, dass der genaue Gebrauch solcher Gerätschaften bis jetzt nicht geklärt werden konnte, wie die Kuratorin Kirstin Kennedy erklärt:



Wie Flora Dennis, Kunsthistorikerin an der Universität Sussex, im Film bereits herausstellte, ist das Messer Teil eines Sets. In ihrem Aufsatz «Scattered knives and dismembered song: cutlery, music and the rituals of dining» von 2010 dokumentiert Dennis ihre Suche nach weiteren Exemplaren, die in der Vertonung der darauf festgehaltenen Gebetsstimmen mündete.
Dennis hält fest, dass diese Messer in der linken Hand gehalten werden mussten, damit der Text lesbar wurde. Weiter schreibt sie: «This contrasts with conventional right-handed carving or eating, and suggests some symbolic transition between the periods of eating and those of prayer.» Wir befinden uns also, haben wir das Messer in der Hand (oder wird es uns hingehalten) in einer Handlung des Übergangs.

Alain Jaubert nennt in seiner 1992 veröffentlichten Dokumentation über Jean Siméon Chardin, La saveur de l'immobile, die Küche eine «sakrale Opferstätte». Seiner Ekphrasis des Bildes


Der Rochen, 1728 

geht eine fantasierende Beschreibung Prousts voran, bei der man merkt, dass dieser nie selbst Austern geöffnet zu haben scheint, wenn er schreibt «Das Auge, das gern mit den anderen Sinnen spielt … sieht bereits, wie die frischen Austern die Pfoten der Katze befeuchten … und wir hören, wie die Austern mit leisem Aufschreien zerspringen und mit Getöse zu Boden fallen.» Bei Austern muss zuerst mit einem langen Messer der Schliessmuskel durchtrennt, das Tier getötet werden, bevor sich dessen Schale öffnet – auch deswegen kann Jaubert von der unheilvollen Macht, die in der Präsenz des Messers liegt, sprechen; das schneidet, tranchiert, enthäutet und töten kann.

Alain Jaubert hält fest, dass  das Dargestellte eine Karfreitagsmahlzeit sei: «An einem Haken im Zentrum des Bildes aufgehängt, lenkt der Rochen mit seinem mimetischen Gesicht den Blick des Betrachters auf sich, der das Tier unweigerlich mit einem Menschen identifiziert. Die Darstellung erinnert an Rembrandts Geschlachteter Ochse, an Szenen des Martyriums oder der Kreuzigung.» Das Messer zeigt auf das geöffnete Meerestier «wie der Speer, der Christi Seite durchbohrt.»
Abschliessend heisst es: « Der Mensch muss essen um zu leben, und so spielen sich bei den grausamen Handlungen, die zur  Nahrungszubereitung notwendig sind,  Tag für Tag in der Abgeschlossenheit der Küche Szenen des Mordes oder der Opferung ab. Mit dem Rochen ist auch dieser bestialische Aspekt unserer zivilisierten Gesellschaft thematisiert.»

das Spiel
Da Kinder sich meist in der Nähe ihrer Mütter oder deren Bediensteten aufhalten, kann Jaubert überleiten und behaupten, dass in den späteren Motiven Chardins überwiegend die Kindheit verarbeitet werde. Ein Begriff, der ziemlich genau zu dieser Zeit aufkam.


Das Tischgebet, 1740 

Flora Dennis schreibt denn auch auf Seite 169: «Cutlery often formed gifts at important moments in the lifecycle.» Auch ich bekam im Übergangsstadium vom Baby zum Kleinkind eigenes Besteck geschenkt. Eine interfamiliale Aufforderung zur Partizipation an den Riten der Erwachsenenwelt (man isst nicht mit den Händen). Aus dem Spiel wird mittels Regeln Tradition.



Mein persönliches Besteck mit eingraviertem Namen. 
Der abgewinkelte Löffel bekam meine Mutter als Kind geschenkt. 

Ich möchte Jauberts Diktum hier präzisieren: Es fällt auf, dass manche Bilder Chardins, welche Kinder (und zerstreut herumliegendes Spielzeug) zeigen, Kindheit zwar darstellen, aber eine stille Kindheit (Kartenhaus bauen, Kreisel drehen, Seifenblasen entstehen lassen). So trug denn auch die letzte Ausstellung des französschen Autodidakten sinnigerweise den Untertitel il pittore del silenzio. Die meisten Bilder zeigen aber rituelle Handlungen: Tischgebet, Morgentoilette, Hausaufgaben und bedeuten so eine andere Seite des Kind-Seins – eben ein von Regeln geleitetes Spiel / Leben.

Giorgio Agamben schreibt in «Kindheit und Geschichte» 1978 entlang 
Pinocchios Geschichte «(Im Land der Spielzeuge) verflogen die Stunden, die Tage, die Wochen wie Blitze» und er verweist auf ein Bild Heraklits, wonach das Zeitmodell des aion (alles passiert auf einmal) von einem Würfel spielenden Kind verkörpert wird. «Während der Ritus Ereignisse in Strukturen verwandelt, verwandelt das Spiel Strukturen in Ereignisse.» Und weiter auf Seite 110: «Wenn uns menschliche Gemeinschaften als geschlossene Einheiten erscheinen … produzieren sie Geschichte, d. h. menschliche Zeit» (chronos als gliedernde, ordnende Zeit).


Zeigt das Notation Knife nicht auf eindrückliche Weise, wie sich diese beiden Zeitmodelle durchdringen? Dass wir als Menschen in der Lage sind, zyklische Handlungen wie Essen bewusst zu unterbrechen, um einer höheren Macht zu gedenken, von ihr Einverständnis mit unserem Tun einzufordern? Oder in anderen Worten in einer Zeit, die eben auch enden kann: Erlösung einzuklagen?

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