Donnerstag, 10. Februar 2011

Erlösungsgedanke



Giovanni Segantini: «Weisse Gans», 1886

«Kunst über Mittag» heisst die alljährliche Reihe im Kunsthaus Zürich. Über Segantinis «Weisse Gans» hätte ich dort gerne gesprochen. Zur Zeit hängt sie aber in der Fondation Beyeler in Basel, von vielen Besuchern umschwärmt (wohingegen sie in Zürich meistens selbstgenügsam und alleine in der Ecke hängt). Im Katalog zur Segantini-Retrospektive steht, sie sei «Malerei im Reinzustand».
Ich musste auf ein anderes Bild ausweichen: Bartolomeo Montagnas "Kreuztragender Christus» von 1515/19 (siehe unten) transportiert als Figur denselben Heilsgedanken. Obwohl Giovanni Segantinis Bild von 1886 nur ein Tier zeigt, ist die «Weisse Gans» aber die bessere Erlösungsszene. Darum soll es hier gehen.

Zuerst einmal ist die Gans vor allem eins: ein Wolkenhimmel – sie ist leichte Malerei, in der sich die Materialität des Gefieders wiederfindet. Das Aufgewühlte des sich im Übergang befindenden Körpers wird nach Aussen getragen; eine Tötungsszene; leicht zu fassen als Idee, aber nicht zu leicht inszeniert wie bei Montagna.
Bei Segantinis Symbolismus wird nichts zur Schlachtbank geführt, wie noch bei Rembrandt und mit ihm später unter Farbexplosion bei Soutine. Der Schreck fehlt, der Krieg, das nackte Fleisch. Segantinis Farben fallen ähnlich klinisch aus, wie beim grossen Ochsenkadaver Jenny Savilles («Torso II», 3.5 x 3 m), doch klingt beim kleinen, fast schon monochromen Vogel mehr an.
Getupft und gestreift – der Pinsel
berührte die Leinwand wohl kaum länger als eine Stunde. Diese bleibt an den Ecken sichtbar. Sie ist nicht vermalt, das Bild nicht zugeklebt wie bei Montagna, der wohl alles ganz schön haben wollte (dieser Mantel, dieses Holz) und damit alles zerstört mit falschen «Realismus» – mit dem nicht mehr schweren Kreuz, dieser Lichtdramaturgie, aber hauptsächlich mit diesem Zeigefinger, der das Gewicht alles Irdischen nur allzu leicht zu überwinden scheint…
Dagegen ist der Tierkadaver kopfüber und als Ganzes in Kreuzform aufs Format gehängt: Der Schatten schlägt links auf die weisse (Kalk-) Wand; am Morgen oder am Abend? Der Ansatz des rechten Flügels windet sich regelrecht zum Hals hin; an diesem Ort findet die Trennung von Erde und Himmel – dem Jetzt und Zukünftigem statt – in zartem Graublau (Montagna braucht dafür tiefes Schwarz).
Am linken und unteren Rand entlang wachsen die langen Federn der Flügel und Rahmen den Körper ein. Zum Schreiben sind nur die äussersten vier Federn eines jeden Flügels geeignet, die dem Tier im Frühling von selbst ausfallen.

Das Erscheinen geht dem Sagen voraus. Der gespreizte Finger kann entweder verweisen (Zeigen), oder er kann der Zeile folgen. Unbeschreiblich bleibt das Opfer von Gottes Sohn. Montagnas Erlöser bleibt ohne Beispiel, der Querbalken des Kreuzes bildet auf seinem Rücken eine massive Grenze.
Bei Segantini bildet das Schreibinstrument die äussere Grenze für den Korpus. Die Überlieferung fusst auf notierter Sprache, dem †ex†. Er ist ganz Gedächtnis. Das Tieropfer führt den Sprachbegabten zur Lesung, zur Geschichte, zur Anamnese: «Tut dies zu meinem Gedächtnis».



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