zwei kurze texte für die veranstaltung «zürcher galerien» der migros klubschule, bei der jeweils einmal pro woche verschiedenste ausstellungen vorgestellt werden. eingesprungen bin ich beim besuch von «grieder contemporary» im löwenbräuareal zürich.
wenn man mit 47 zurückschauen muss, ist das schon sehr problematisch, oder selbstverliebt, oder kunstmarktstrategie (was wohl alles auf dasselbe hinausläuft).
© grieder contemporary 2015
nic hess zieht in seinem ‚grossen fahrplan für eine kleine stadt’ wortwörtlich alle fäden zusammen. 1968 in zürich geboren, 1995 – mit 27 - das erste werk unter gleichnamigem titel. leider nicht überliefert. also eine persönliche ausstellung, nic lässt revue passieren, lässt sich in die karten schauen, lässt sich ja auch gut verkaufen, eine solche aufdröselung in kleinstteile, wo eine tonwert-zeichnung des künstlers mit grosser nase (1985, das älteste ‚werk’) auf eine gerahmte grafik, die in ein unüberschaubares beziehungsgeflecht auszuarten scheint (‚grosser fahrplan (one and two)’ von 2003), herunter lächelt. doch schön der reihe nach (wenn das denn geht).
kunstgeschichtliche anknüpfpunkte:
murals, collage, combine-paintings, konzeptkunst, street art
was bedeutet es, etwas an eine wand zu hängen? meine damen und herren, sie kennen die entwicklung des tafelbildes, die stark mit christlich-ikonografischer sakralkunst zu tun hat. nun haben wir es hier mit einem sehr konkreten fall zu tun: die wand misst in etwa 8 auf 3.5 meter, darauf verteilt ist gezeichnetes. wie zeichnet man? man ist nah dran. mit der nase am papier. so auch beim lesen einer zeichnung. sie können sich hier an ein besonderes gefühl erinnern, nämlich bevor es diese elektronischen fahrpläne bei der sbb gab, mit ihren 30-punkt grossen schriften, fuhr man mit dem finger ein gelbes plakat entlang, es war von der grösse – achtung, symbolik: weltfformat. man versuchte so, die in maximal 12 punkt gesetzte schrift (schwarz auf gelb) zu lesen und herauszufinden wo und wie der zug nun verkehrte (die zwischenstationen waren in noch kleinerer schrift). eine sehr intime form der rezeption.
dasselbe phänomen treffen wir hier an. während die weiterentwicklung der murals in den 70er jahren des letzten jahrhunderts in new york, die graffitis und deren bastlerische abart, die street art, die zum jahrtausendwechsel in london aufkam, während diese zwei nicht-institutionalisierten kunst- und/oder freizeitformen also den ort und eben die distanz brauchten, um wahrgenommen zu zu werden (deswegen die peinlichkeit der touristischen vermarktung, wo auf street art-touren durch eine stadt kunst ‚entdeckt’ werden kann – mit vielen ‚geheimtipps’; wie geheim oder intim solche kunst noch ist, sei dahingestellt), lesen wir wortwörtlich in desen kleinen formaten hier, schweifen umher. ein anderes wort fürs umherschweifen ist das französische ‚dérive’, neben der zweckentfremdung (‚détournement’) die zweite (kultur)technik, die von situationisten im nachkriegsfrankreich in paris entwickelt wurde, um die stadt auf eine andere art wahrzunehmen, als es die heutige konsummeilen und fresstrassen, die in jeder stadt aus denselben versatzstücken (h&m, vero moda …) bestehen, vorschlugen. der situationismus also wendete sich gegen das vergnügen, gegen das spektakel in gesellschaft und kunst.
so viel mal zur form, zur hängung dieser ausstellung.
assoziationen:
logo-design, primärfarben, popkultur, mediatisierte bilder (tv, presse)
nic hess zimmert eine privatmythologie unter zuhilfenahme von versatzstücken wie einer aktzeichnung aus der studienzeit (1994), entwürfen zu ausgeführten wandcollagen, sudelbuchsauerei, grafiken als weiterentwicklung seiner skulpturen, oder herausgelösten elementen der popkultur wie harland d. sanders (gründer der fastfoodkette KFC).
natürlich erinnert die ‚raumgreifende wandinstallation’ an eine tube map. an einen fahrplan eben. was man dem 47-jährigen künstler lassen muss: er ist ein meister der linie. sie kennen optischen täuschungen wie das penrose-dreieck, das eigentlich flach, sich dann aber doch gegen hinten in den raum zu verlieren scheint. solche wechselspiele zwischen figur und grund nutzt hess gekonnt und ausgiebig.
berühmt wurde er mit seinen wandbildern aus klebeband. in corporate identity-sauberkeit klebt er seine schönen silhouetten zu trompe-l'oeil-effekten. habe sie ihren dienst getan, knüllt er die tapes zu gummibällen. doch bei grieder contemporary fällt die tiefenwirkung weg (wegen der dimension ihrer räumlichkeiten?). was bleibt, ist ein arrangement, bei dem die blätter direkt an die wand gepinnt worden sind. einige zeichnungen sind gerähmt, die erinnerungsknäuel (die zerknüllten klebebänder) wurden anderweitig geschützt – entweder, indem über sie eine glasglocke gestülpt wird, oder aber indem sie hoch oben, zwischen zwei weissen winkeln aus dem baumarkt, knapp unter der galeriedecke anzutreffen sind.
grieder contemporary gibt es so seit januar 2006, zuerst stellte damian grieder bei sich zuhause in küsnacht aus. hier stellt sich die frage, inwiefern man sich als künstler im kurzlebigen galeriedschungel über wasser hält. partnerschaften fürs leben sind da heute wohl nur mehr schwer möglich. eher freundschaftsausstellungen, vielleicht ganz casual zusammengeplaudert während einer grillparty bei freunden. so wird der/die betrachterIn mit dem unguten gefühl zurückgelassen, es werde restenverwertung fabriziert. wären die erinnerungsknäuel nicht aus buntem kautschuk und würden, gummibällen ähnlich, nicht fröhlich rauf und runter hüpfen (in unserer vorstellung), wüsste man nicht, was anfangen mit diesem konglomerat: es klebt einfach zu viel auf einem haufen.
vielleicht ist dies aber auch eine chance für die kunst. galerien zeigen zeitgenössisches. man ‚entdeckt’ eine künstlerin/einen künstler die oder der noch nicht in den grossen kanon der kunstgeschichte aufgenommen wurde. warum also soll sich dies nicht auch in der form ihrer präsentation niederschlagen? ein solches wimmelbild wird man im museum schwerlich antreffen können. und es hat ja auch etwas kindliches – worauf soll denn diese kleine stuhl auf der rechten seite der galerie sonst verweisen?
tibetisches totenbuch
© grieder contemporary 2015
kunst kommt von künstlich – kesang lamdark, der in der schweiz aufwuchs, zeigt dies mit seinen tibetischen wurzeln ziemlich deutlich, indem er sie konserviert.
ich möchte dieser besprechung zwei persönlichen erinnerungen vorausschicken. 1) es ist auf eine gewisse art folkore, wenn man sich als schweizer buddhistische gebetsfähnchen in den garten hängt. die alternative umgebung, in die ich kam, als ich als junger erwachsener auszog (nach winterthur) tat aber genau dies. den garten damit schmücken. vielleicht steckte dahinter auch mehr. zeigen, dass man sich für andere kulturen interessierte. vielleicht auch, einen bannkreis gegen böse geister errichten etc.. auf jeden fall: die urtümlich anmutenden, traditionell mittels holzdruck verzierten rechteckigen flattertücher hängen solange draussen, bis sie vollständig verwittert sind, alle gebete zum himmel getragen wurden und so die vergehende zeit des menschen auf dieser welt dokumentieren.
lamdark macht das gegenteil: er konserviert. er will erinnern – mahnen. zuerst wirken die sechs wandobjekte abstossend. mit ihrer knalligen farbigkeit erinnern sie an süssigkeiten und als bildformat an kitschkunst. 2) meine grossmutter sammelte souvenirs von wallfahrtsorten, ein kleiner schrein aus einsiedeln hat mich als kind besonders beeindruckt: in der mitte die schwarze madonna, um sie herum zum gotischen spitzbogen geordnete kleine lämpchen in sternenform, die in allen erdenklichen neonfarben leuchteten, wenn man den schalter drückte. das hat nichts damit zu tun, dass man sich, wie bei neuzeitlichen engelsdarstellungen (deren federn an den flügeln in spektralfarben leuchten) an einen regenbogen – omen eines göttlich-gelobten ‚alles-wird-gut’ – erinnert fühlt. licht als metaphysisches erlebnis, das lamdark ebenso einsetzt, wird hier zum special effect; es steigert das artifizielle der farb- und formgebung.
hier setzt sich einer aus. versuchen sie nachzuvollziehen, wie diese aus geschmolzener pvc-folie geformten schreine entstanden sind. überhaupt die produktionsbedingungen werden hier dokumentiert. man ist immer ausgesetzt, hier im speziellen die tibeter. wie sie im ausstellungstext nachlesen können, sind hinter der dicken plastikschicht fotos aus der presse zu sehen. selbsstverbrennungen von landsmännern als öffentlicher/stiller protest. historische ereignisse, die nicht vergessen gehen sollen. eingeschlossen wie insekten in bernstein. die bekannte porträtaufnahme mao tse tungs, dem ‚kulturrevolutionär’, trägt den titel ‚mao butts’ (cigarette butts sind zigarettenstummel, der butt steht aber auch, etwas vulgärer, für den allerwertesten). mao soll einen hohen tabakkonsum gehabt haben, in china immer noch ein zeichen von reichtum, was bei uns eher an eine herkunft aus dem handwerksmilieu, der arbeiterklasse suggeriert. sie merken, das vokabular wird sofort soziologisch. anders als die räucherstäbchen im tempel vermögen diese kein heilsversprechen einzulösen. die atmosphäre ist sofort eine andere. man fragt nach dem element, indem man wirkt. wie bei ‚poison water’ (auch aus 2015). dort sind tatsächlich insekten im pvc eingeschlossen, doch ist deren bildsprache gar plakativ.
seine lebenswelt analysieren. lamdark kann nicht anders. er, der zwischen mehreren hin- und hergerissen scheint. drei sind es genau genommen: die schweiz, wo er lebt und arbeitet, tibet als herkunftsland und china als künstlich etablierte macht in tibet (die dem künstler zufolge schon mit der britischen expedition 1903 faktisch begonnen haben soll). tibet war lange autonomes gebiet, die grenzen chinas hörten vor dem gebirgskamm des himalaya auf. das protektorat hatte grossen einfluss auf die politik der han-chinesen. die briten verletzten diese autonomie was tief greift. gewaltherrschaft, der geistige führer, der dalai lama, wurde ins exil geschickt. die von china etablierte exilregierung befürwortet eine vollständige unabhängigkeit tibets natürlich nicht.
vielleicht rührt der drang des perforierens, der nadelstiche daher. löcher ins system stechen. durchlässigkeiten schaffen. das lhasa bier als kulturgut, aber analog auch als genuss-, bzw. suchtmittel (siehe maos zigaretten). 46 dosen sind es an der zahl. grün ist die farbe der hoffnung. der weisse querstreifen lässt an (militärische) schärpen als ehrenauszeichnung denken. oder können wir lamdark eskapismus vorwerfen? komatöser tiefschlaf nach zuviel bierkonsum? narkotikum und tiefschlaf? was wir mit sicherhheit sagen können: die matraze ist vom allerersten atelier in der roten fabrik abgeformt, gefüllt mit styropor. alles gebrauchte materialien – ‚arme materialien’– eine asiatische arte povera. man arbeitet mit dem vorgefundenen.
dabei will er doch dem kreislauf entkommen. im tibetischen buddhismus, namentlich im totenbuch, das im 14. jahrhundert entdeckt worden ist, sind übungen zu finden, wie man dem ewigen kreislauf von leben, sterben und wieder geboren werden entweichen und ins nirvana gelangen kann. sich ausklinken und sein schicksal selbst in die hand nehmen. meint doch der begriff der utopie nichts anderes, als einen nicht-ort, eine gesellschaftsordnung, die nicht an zeitgenössische historisch-kulturelle rahmenbedingungen gebunden ist. auch das schafft die kunst. allerdings ist die utopie nicht zu verwechseln mit der eutopie, dem guten ort, denn dieser bleibt ein wunschtraum.